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Der Vatikan zeigt an der Biennale den Papst-Provokateur Maurizio Cattelan
Episode 2624th May 2024 • Laut + Leis • kath.ch
00:00:00 00:28:46

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Shownotes

Papst Johannes Paul II, den ein Meteorit niederstreckt, oder ein betender Hitler: Der Künstler Maurizio Cattelan sorgt mit seinen Werken regelmässig für Irritationen. Just ihn hat der Vatikan jetzt für die Biennale in Venedig engagiert. Was das bedeutet und wie Cattelan arbeitet, erzählt die Kunsthistorikerin Madeleine Schuppli.

Themen dieser Folge:

  • Wer ist der weltbekannte Konzeptkünstler Maurizio Cattelan?
  • Wie hat ihn seine katholische Erziehung geprägt?
  • Warum hat der Vatikan gerade Cattelan für die Biennale in Venedig engagiert?
  • Der Vatikan hat acht Künstlerinnen und Künstler ins Frauengefängnis auf der Insel Giudecca eingeladen: Wie sieht Cattelans fotorealistische Wandmalerei aus?
  • Was bedeuten die nackten, geschundenen Füsse?
  • Welche Rolle spielen die Gefängnisinsassinnen?
  • Inwiefern ist die Ausstellung ein cleverer Schachzug des Vatikans?
  • Kirche und Kunst waren jahrhundertelang eng miteinander verbunden. Wie sieht es heute aus?
  • Welche Parallelen gibt es zwischen zeitgenössischer Kunst und dem Glauben?

Transcripts

Madeleine Schuppli [:

Die römisch-katholische Kirche hat ja eine Herausforderung mit ihrem Image, eine gewisse Form, gesellschaftliche Haltungen, die mit einer zeitgenössischen Gesellschaft natürlich in Konflikt kommen. Die Haltung gegenüber Homosexualität zum Beispiel oder Abtreibung. Und dass sie hier – weil die Kirche hat ja eine ganz interessante Geschichte mit der Kunst – einen Schritt auf die Gegenwartskunst auch zumacht und ja, auch offen ist und dann eben jemand sogar wie Maurizio Cattelan einlädt. Das ist ein starkes Zeichen.

Sandra Leis [:

Das sagt Madeleine Schuppli. Sie ist Kunsthistorikerin und hat das Kunstmuseum Thun und später das Aargauer Kunsthaus geleitet. Zuvor war sie Kuratorin in der Kunsthalle Basel und hat dort 1999 die skandalträchtige Arbeit «La nona ora», «Die neunte Stunde» von Maurizio Cattelan präsentiert. In dieser Arbeit wird Papst Johannes Paul II. als lebensgroße Wachsfigur von einem Meteoriten niedergestreckt und sinkt mit dem Kruzifix in der Hand zu Boden. Dieser Papst-Provokateur ist ein weltberühmter Konzeptkünstler, und just ihn hat der Vatikan jetzt an die Biennale nach Venedig eingeladen. Ich bin Sandra Leis und freue mich, in dieser Folge mit der Cattelan-Expertin Madeleine Schuppli über seine Kunst zu sprechen und zu fragen, inwiefern diese Einladung auch ein cleverer Schachzug des Vatikans ist. Madeleine Schuppli, wir treffen uns hier in deinem Büro, in einem Großraumbüro. Es gibt noch andere Menschen, die auch hier sind. Das ist eine schöne Arbeitsatmosphäre. Es kann einfach sein, dass wir leichte Nebengeräusche haben. Aber das spiegelt letztlich die Arbeitsatmosphäre hier in Zürich. Herzlich willkommen, Madeleine zu unserem Gespräch.

Madeleine Schuppli [:

Vielen Dank, Sandra.

Sandra Leis [:

Anfang März hat der Vatikan bekannt gegeben, welche Künstlerinnen und Künstler er nach Venedig einladen will an die Biennale. Warst du überrascht, als du den Namen Maurizio Cattelan gehört hast?

Madeleine Schuppli [:

Ja, ich war überrascht. Das war schon ziemliche Nachricht. Ich war auch überrascht, dass der Vatikan einen Pavillon hat an der Venedig-Biennale, wo ja die Länder vertreten sind mit den traditionellen Pavillons in den Giardini. Dann gibt es weitere Pavillons verteilt in der Stadt und dass einer dieser Pavillons eben vom Vatikan betrieben wird. Ich habe dann aber gelernt, dass der Vatikan doch schon einige Jahre präsent ist. Aber bezeichnenderweise habe ich das bisher gar nicht zur Kenntnis genommen. Und ich denke auch, dass die Kunstszene das größtenteils vielleicht bisher nicht zur Kenntnis genommen hat. Aber jetzt, dieses Jahr unter anderem oder vielleicht vor allem, weil sie eben auch Maurizio Cattelan eingeladen haben, war das das große Thema. Auch an den Eröffnungstagen, den Besichtigungstagen der Professionals in Venedig.

Sandra Leis [:

Und der Vatikan ist ein eigener Staat, deshalb darf er das auch. Aber er ist eigentlich erst seit 2013 immer wieder mal präsent, aber nicht regelmäßig. Und deshalb ist es wirklich eine News. Und dann noch diesen berühmtesten der italienischen Künstler, diesen Skandalkünstler, dass der eingeladen wurde. Mich hat es auch sehr überrascht. Du kennst ihn schon lange, bevor wir auf die Kunst eingehen: Was für ein Mensch ist Maurizio Cattelan?

Madeleine Schuppli [:

Maurizio Cattelan ist ein unkonventioneller Mensch, ein sehr spannender Mensch und ein sehr intelligenter Mensch. Er ist, sagen wir, er weiß ganz genau, was er tut. Er ist sehr bewandert in der Kunst. Er reflektiert sehr, sehr genau, verstellt sich aber ein Stückweit auch. Er spielt auch so eine Rolle. Er spielt zum Teil den Künstler, er mokiert sich über das ganze Kunstsystem und ist auch jemand, der nicht so einfach zu fassen ist. Wenn man ihn besser kennt und auch sein Vertrauen gewonnen hat, was ich sicher habe durch die Zusammenarbeit ja relativ noch am Anfang seiner Karriere, dann ist er auch eine sehr liebenswürdige Person, die sich auch Zeit nimmt für einen und offen ist für einen Dialog. Aber er hat wie so zwei, denke ich, so zwei Seiten, mit denen er spielt. Er spielt auch den Künstler und hat gleichzeitig eine Ernsthaftigkeit. Von daher ist er schwierig zu fassen.

Sandra Leis [:

Er hat einmal von sich selber gesagt, er sei eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde, aber man weiß ja nie genau, spricht er über sich, und stimmt es wirklich? Ich denke schon auch, er hat was von einer manchmal auch gespaltenen Persönlichkeit.

Madeleine Schuppli [:

Ja, also in unserem Katalog, den wir in der Basler Kunsthalle gemacht haben, hat Laura Hoptman, eine tolle Kuratorin, einen Text über ihn geschrieben. Der Titel dieses Textes war «Der Schwindler», der Trickster. Sie hat das genau so ins Zentrum gesetzt. Dieses in Rollen Schlüpfen, dieses die Leute auch Verwirren und in Bezug auf Venedig, wo wir sicher grad zu sprechen kommen, habe ich an mehreren Orten gelesen, dass Maurizio Cattelan einen Film gemacht hätte. Und was ja überhaupt nicht so ist, ist etwas ganz anderes als er. Hier scheint er auch Fake News, wie man heute so schön sagt, verbreitet zu haben, über was er in Venedig nun zeigt.

Sandra Leis [:

Ich habe auch zuerst gemeint, es sei ein Film. Du warst vor Ort. Was hast du gesehen?

Madeleine Schuppli [:

Giudecca ist ein Teil von Venedig, ist eigentlich relativ groß. Man kommt auch einfach hin. Es ist eine Station mit dem Vaporetto. Legt man über, ist direkt gegenüber des Stadtzentrums. Und dort ist es dann plötzlich ganz ruhig. Es hat fast keine Touristen mehr, und man geht durch dieses Quartier durch, wo dann Wäsche draußen hängt, wo Hunde auf der Piazza spielen, und kommt dann in so eine ganz ruhige Gasse, die einen Kanal entlangläuft, zu einer Kirchenfassade. Und diese Kirchenfassade ist in einer Schwarz-Weiß-Malerei bemalt, riesig groß. Die ganze Fassade ist bedeckt von dieser Malerei, und das ist die Arbeit von Maurizio Cattelan.

Sandra Leis [:

Es sind Füße sind zwei nackte Füße, die man sieht, riesengroß. Wie wirken diese Füße auf dich?

Madeleine Schuppli [:

Das Bild ist eigentlich fotorealistisch gemalt, aber von der Farbigkeit denkt man an eine Schwarz-Weiß-Fotografie.

Sandra Leis [:

Oder grau in grau.

Madeleine Schuppli [:

Genauso grau in grau. Einfach die ganzen Grautöne, wie man sagt. Es hat mich zuerst sehr stark an eine Fotografie erinnert, auch ganz realistisch, ganz genau gemalt und man muss ein bisschen Abstand nehmen, damit man das Bild richtig sieht. Es gibt dort gerade eine kleine Brücke über den Kanal, und wenn man auf diese Brücke geht, sieht man gut an diese Kirchenfassade und an das Bild. Und was man sieht ist, wie du sagst, zwei Füße, aber von den Fußsohlen aus gesehen. Also der Blick von unten, wie man es sehen würde, wenn jemand liegt. Aber es sind nur die Füße. Der Körper fehlt. Es gibt kein Anzeichen, dass diese Fußsohlen irgendwie verbunden sind mit einem, mit einem Körper. Und plötzlich denken wir: Ja, das ist ein komisches Bild. Irgendwie geht etwas nicht. Es ist wie ein Fehler drin. Es wirkt dann fast surreal. Und diese riesigen Füße fliegen irgendwie im Raum, weil sie nicht verbunden sind.

Sandra Leis [:

Mit dem Körper.

Madeleine Schuppli [:

Genau mit einem Körper bzw. gar kein Körper sichtbar. Und das, das irritiert auf jeden Fall.

Sandra Leis [:

Papst Franziskus ist der erste Papst, der überhaupt an die Biennale gereist ist, und sein Anlass war natürlich diese Ausstellung. Er wollte die auch sehen, hat sich auseinandergesetzt. Er ist auch zu den Gefängnisinsassinnen gegangen und er hat eine kleine Rede gehalten, auch vor den Künstlerinnen und Künstlern, und hat da gesagt, er hoffe, dass die zeitgenössische Kunst Zitat «unseren Blick öffnen» würde. Macht das die Kunst, öffnen diese Füße unseren Blick?

Madeleine Schuppli [:

Wenn man den Blick öffnen vielleicht gleichsetzen möchte mit, was man durchaus tun könnte mit, dass ein Kunstwerk eben Fragen öffnet, dann könnte man das unterschreiben. Auf jeden Fall bei dieser Arbeit, weil gerade wenn etwas ja nicht ganz klar ist. Dann muss ich noch mal hin. Ich muss nochmal nachdenken, was wir jetzt gesehen haben und fragen: Was will der Künstler damit? Wir denken ja nicht, da ist ein Unfall geschehen ist und er hat den Körper vergessen. Er hat nur die Fußsohlen gemalt, und das ist natürlich gewollt und hat mich länger beschäftigt. Ich habe aber keine wirklich interessanten oder ausführlichen Interpretationen des Werks gefunden. Ich glaube, auch die ganzen Kunstkritiker, die natürlich in Venedig unterwegs sind anlässlich der Biennale, waren ein bisschen ratlos. Ich habe etwas gefunden. Und zwar gibt es in der Pinacoteca Brera in Mailand, das große Museum für Alte Kunst, ein Werk von Andrea Mantegna mit dem Titel «Cristo Morto». Es zeigt den toten Christus. Es ist 1480 gemalt und war damals ein Skandal, auch weil Christus wird aufgebahrt gezeigt, und die Perspektive ist von den Fußsohlen aus interessant zu sehen, diese geschundenen Fußsohlen. Und bei Cattelan sind es auch geschundene Fußsohlen. Ich dachte zuerst an Fußsohlen, vielleicht von einem Obdachlosen, der barfuß rumgeht den ganzen Tag. Oder eben Fußsohlen von einer toten Person. Vielleicht im Leichenschauhaus. Solche Fußsohlen einer älteren Person vielleicht auch. Und ich würde jetzt annehmen, da Maurizio sehr bewandert ist in der Kunstgeschichte, dass hier ein Hinweis auf diesen toten Christus von Mantegna verborgen ist.

Sandra Leis [:

Cattelan ist ja wirklich bekannt als Provokateur. Ich selber war noch nicht in Venedig, werde es aber natürlich noch machen, habe aber diverse Aufnahmen gesehen von diesem Kunstwerk und finde es beeindruckend. Aber ich sehe es noch nirgends so genau, die Provokation. Es ist ja kein Skandal. Sagen wir es mal so.

Madeleine Schuppli [:

Ja, es ist kein Skandal. Es ist eher etwas, was irritiert. Es ist ja an der Außenfassade. Es ist eigentlich gegen aussen in die Öffentlichkeit gerichtet, gegen die Öffentlichkeit von Venedig und vielleicht auch an die Kunstöffentlichkeit. Und es gibt weitere, das ist wichtig zu erwähnen, es sind acht Künstlerinnen und Künstler, die bei dieser Ausstellung mitmachen. Und die anderen Kunstwerke sind dann im Innern. Also man muss sich, wenn man die Ausstellung besuchen möchte, muss man sich voranmelden. Es war während der Eröffnungstage natürlich sofort ausgebucht. In kleinen Gruppen wird man dann von einer Gefängnisinsassin geführt, also die wurden eingewiesen. Sie wurden einbezogen auch ins ganze Projekt und zeigen dem Kunstpublikum die Ausstellung.

Sandra Leis [:

Die Wandmalerei können sie nicht zeigen, weil die ist draußen. Da habe ich noch eine letzte Frage. Cattelan ist ja schon seit vielen Jahren auf dem Kunstmarkt. Du kennst ihn mindestens seit 1999. Was er meines Wissens bis jetzt noch nie gemacht hat, ist Malerei. Er hat auch ein wirklich interessantes Interview gegeben, dem Magazin der «Süddeutschen Zeitung» vor fünf Jahren. Und ich glaube, das war weniger Fake. Also man weiß es nicht genau, aber ich glaube schon, dass er da auch wirklich von sich gesprochen hat. Und da hat er beispielsweise gesagt, er könne weder zeichnen noch malen. Was vermutest du, weshalb ist er jetzt doch bei der Wandmalerei? Hat natürlich nicht selber gemalt, das ist schon klar. Er ist ein Konzeptkünstler, er hat die Idee. Aber ich finde es faszinierend, dass er jetzt wieder etwas Neues ausprobiert. Rein schon vom Formalen her, vom Stil her, ja.

Madeleine Schuppli [:

Es gibt ja Künstler, deren Arbeit erkennt man sofort.

Sandra Leis [:

Sofort genau, was bei ihm eben nicht der Fall ist.

Madeleine Schuppli [:

Ja nicht sofort, weil immer der gleiche Stil ist das gleiche Medium, weil sie sich auf etwas spezialisiert haben und er wie du sagst, er sagt, er kann eigentlich handwerklich nichts. Wenn man sagt, Kunst kommt vom Können, dann würde das bei ihm nicht funktionieren, sondern er hat eine Idee und er schaut dann, wie er die umsetzen kann. Er sucht sich dann Fachleute, zum Beispiel jemand, der eine Wachsfigur macht, wie bei der Arbeit mit der Papst-Figur. Und hier sucht er sich Malerinnen und Maler, die das für ihn umsetzen können. Das spielt für ihn dann eigentlich auch nicht mehr so eine Rolle. Es muss perfekt sein. Er überwacht es natürlich. Es muss genau seinen Vorstellungen entsprechen. Aber die Idee ist das Zentrale. Und deshalb würde ich jetzt die Wahl für Malerei hier gar nicht so wichtig nehmen. Ich glaube, das ist nicht so relevant, sondern er hat sich einen Ort gesucht, diese Außenwand gesehen, und das könnte wie eine Leinwand sein. Das könnte ein Hintergrund sein für ein riesiges Bild.

Sandra Leis [:

Faszinierend ist, dass er immer wieder überrascht, dass er jetzt Malerei macht. Und weltbekannt wurde er wirklich 1999 mit seinem großen Werk «La nona ora». Vorhin schon kurz gesagt, Papst Johannes Paul II. wird von einem Meteoriten getroffen, und der Papst stürzt dann zu Boden. Du hast diese Arbeit vor 25 Jahren in der Kunsthalle Basel gezeigt. Welche Reaktionen gab es damals?

Madeleine Schuppli [:

Ja, das war interessant. Der Kontext Basel ist natürlich ein sehr liberaler Kontext. Das ist auch eine protestantische Stadt, und daher gab es in Basel keinerlei empörte Reaktionen. Wenn ich mich erinnern kann, gab es einen Brief von jemandem, der das respektlos fand, aber sonst eigentlich eher eine große Begeisterung für die Arbeit, die wirklich vielleicht wie diese Malerei in Venedig, als man da um die Ecke kam und dann zuerst mal vor diesem großen Bild stand. Man kam in den großen Ausstellungsraum im ersten Stock der Kunsthalle Basel. Der ganze Raum war mit einem riesigen roten Teppich ausgelegt, und ziemlich weit hinten lag dann doch dieser geknickte, halb liegende, halb kniende Papst mit dem Stein.

Sandra Leis [:

Der Papst war in Lebensgröße nachgemacht.

Madeleine Schuppli [:

Genau. Und etwas weiter vorne Glassplitter am Boden. Und dann schaute man zur Decke hoch und sah, dass die Glasdecke ein Loch hatte. Also Cattelan hat das inszeniert, wie wir ihn eben kurz bevor wir eingetroffen wären, als Besucherinnen und Besucher hier ein Meteorit runtergesaust wäre. Und ausgerechnet auf dem Papst, der hier in diesem großen Raum gestanden hat, der sich von der Ausgestaltung eigentlich an die Residenzräume des Papstes im Vatikan anlehnt, dort, wo der Papst steht oder sitzt und dann Würdenträger, Staatsoberhäupter ja regelmäßig empfängt. Daher die Idee auch, dass man weit gehen muss, bis man zu ihm kommt. Dieser rote Teppich, das ein bisschen auch Inszenieren, diese Begegnung mit dem Kirchenoberhaupt. Das hat er imitiert im ganzen Setting.

Sandra Leis [:

Also du hast gesagt, in Basel gab es jetzt keine aufgeregten Reaktionen. An der Biennale in Venedig wurde das Werk auch gezeigt. Auch da ist mir nicht bekannt, dass es da einen Skandal gegeben hätte. Aber es gab einen in Polen.

Madeleine Schuppli [:

Genau, als wir zusammen diese Arbeit und die Ausstellung realisiert haben in Basel. Maurizio Cattelan und ich hatte mal in einer Nebenbemerkung gesagt: «Ich bin froh, dass ich es hier in Basel zeigen kann, dass ihr auch irgendwie so locker und offen seid. Auch von der Kunsthalle her. In Italien könnte ich das nie.»

Sandra Leis [:

Er hat die Arbeit dann aber doch gezeigt in Italien, und zwar an der Biennale.

Madeleine Schuppli [:

Ja. Dann kam der Schweizer Kurator Harald Szeemann und hat ihn – ich glaube, es war drei oder vier Jahre später – nach Venedig eingeladen. Es war Teil der Venedig-Biennale, im Arsenale ganz hinten, und auch dort wurde das eigentlich recht wohlwollend aufgenommen. Die dritte Station dann, es ist so eine Eskalationsstufe, war dann in Polen, in der Galerie, das Museum für zeitgenössische Kunst in Warschau. Und dort gab es einerseits Vandalen, würde man sagen, also jemand wollte den Stein wegnehmen, also dem Papst unter dieser Last des Steines befreien, aber natürlich dadurch das Kunstwerk auch vandalisieren. Und die Direktorin des Museums bekam die Quittung und musste ihren Posten räumen. Und das hängt natürlich dann damit zusammen, dass es der polnische Papst war, auf den man unheimlich stolz war. Man wollte den polnischen Papst nicht so exponiert sehen und lebensecht das Bild nicht so dargestellt sehen.

Sandra Leis [:

Du hast ja mit Cattelan ausführlich über dieses Werk gesprochen: Hat er diesen Skandal auch gesucht, war letztlich zufrieden, dass es da dann mal zum Skandal gekommen ist?

Madeleine Schuppli [:

Nein, ich glaube nicht, dass er jemand ist, der den Skandal sucht. Aber er sucht die Irritation. Für ihn muss Kunst Fragen stellen. Wenn Kunst einfach so Freude macht, wir es mit einem Kopfnicken oder Schulterzucken so abtun können, dann wäre er nicht zufrieden. Aber sicher nicht die Provokation um der Provokation willen. Das ist vielleicht eher in seinem persönlichen Verhalten, wie wir am Anfang dieses Gespräches darüber gesprochen, wie er sich verhält, zum Teil auch sehr unkonventionell. Aber seine Arbeit ist eigentlich ernst gemeint, nicht eigentlich – es ist ist ernst gemeint.

Sandra Leis [:

Das heißt, es ist auch eine ernste Auseinandersetzung gewesen mit Papst Johannes Paul II.?

Madeleine Schuppli [:

Absolut. Er ist ja in einem sehr religiösen Haushalt aufgewachsen. Er hat mir erzählt, dass zum Beispiel seine Mutter einfach dauernd Radio Vatikan hört, dass das bei ihnen zu Hause Dauerberieselung sei. Er sogar im Bett hört sie noch Radio Vatikan. Er selber war Messdiener, er war als Junge sehr engagiert und mit der Kirche aufgewachsen. Schliesslich hat er diesen Papst zu Fall gebracht. Man sagt auf Italienisch natürlich auch «papa». Papst ist ja auch der Vater. Dieser Sturz hat wohl auch eine gewissen Befreiung von diesem Korsett der religiösen Kirche für ihn bedeutet.

Sandra Leis [:

Du sagst, er sei ja sehr religiös aufgewachsen, erzogen worden. Er ist in armen Verhältnissen aufgewachsen: Der Vater war Lastwagenfahrer, die Mutter Putzfrau, eine Schwester wurde Nonne. Also er ist wirklich Im Katholizismus hat er quasi gebadet. Und er hat einmal später gesagt, ich zitiere ihn noch ein zweites Mal: «Wenn man in dieser katholischen Soße aufgewachsen ist, kannst du dir noch so oft die Hände waschen, du wirst das Zeug nicht mehr los.» Das klingt ziemlich brutal. Du kennst ihn: Was glaubst du, hat er von seiner katholischen Erziehung auch etwas Positives mitnehmen können?

Madeleine Schuppli [:

Das weiß ich nicht. Ich denke, für mich ist das jetzt nicht überraschend, was er sagt. Ich glaube, das stimmt für jeden von uns, Wenn man sehr religiös erzogen wurde und aufgewachsen ist, einem das vorgelebt wurde, dann bleibt das einem ein Leben lang, begleitet das einem.

Sandra Leis [:

Und er setzt sich damit auseinander.

Madeleine Schuppli [:

Genau. Und die Künstler sprechen ja sie gerade jetzt in der zeitgenössischen Kunst seit der Moderne für sich selber, es sind sehr subjektive Statements. Kunst zu betrachten ist, die Welt durch die Augen von jemand anderem zu betrachten. Sie öffnen ja einen anderen Blick auf die Welt, Sie teilen ihren subjektiven, persönlichen Blick auf Themen der Welt und beziehen sich oft sehr stark auch auf die eigene Persönlichkeit, auf die eigene Geschichte.

Sandra Leis [:

Wenn wir noch mal zurückkehren nach Venedig, zum Gefängnis und zum Papst. Zwei Anliegen in seinem Pontifikat extrem wichtig, nämlich die Sorge um die Umwelt, um die Natur und die Bekämpfung der Armut. Er selber besucht regelmäßig Gefängnisse und so finde ich es eigentlich noch typisch, obwohl er das sich nicht alles selber organisiert hat, er hat ja den Vatikan. Ist mir schon klar, aber ich glaube, es passt in sein Pontifikat, dass der Vatikan in einem Gefängnis ausstellt. Und wie du vorhin erzählt hast, die Insassinnen auch eine aktive Rolle bekommen, dass sie nämlich diese Führungen machen, dass sie nicht mehr am Rand der Gesellschaft sind, sondern die Besucherinnen und Besucher kommen zu ihnen, wollen etwas wissen, etwas hören. Und könnte es auch sein, dass da ein Stück weit auch eine Utopie Realität wird, also die Utopie der Menschen, die am Rand sind, dass die plötzlich ein bisschen, ein kleines bisschen ins Zentrum rücken, in dem sie diese Kunst ausstellen. Ist das eigentlich eine große Leistung des Vatikans?

Madeleine Schuppli [:

Ich finde, das ist schon ein sehr wichtiger Teil des ganzen Projektes, wo das, wo es eben stattfindet. Und ich finde, das ist eine sehr starke Geste, an diesen Ort zu gehen, an diesen Ort der eigentlich Ausgeschlossenen. Und sie dürfen ja nicht, sie können ja nicht zu uns kommen. Sie sind ja dort inhaftiert, weil diese Frauen, sie sind wirklich außerhalb der Gesellschaft, sie wurden bestraft und die Bestrafung ist, dass sie eben ausgeschlossen werden. Und jetzt gehen wir zu ihnen. Zeigen wir unser Interesse für den Ort. Und dann natürlich vor allem für die Kunst, die an ihrem Lebensort, ihrem temporären Lebensort ausgestellt ist. Und ich finde, das ist eine sehr starke Geste, auch eine Geste, eben die Ausgestoßenen ins Zentrum auch zu nehmen und auf sie zuzugehen. Vielleicht ist hinzuzufügen, dass in diesem Gefängnis bereits vorher Kunstausstellungen stattgefunden haben. Also da gab's schon eine Bereitschaft. Ich denke, auch nicht jedes Gefängnis ist bereit, sich auf das einzulassen. Das ist ja auch eine ziemliche Herausforderung für den Gefängnisbetrieb. Das ist das eine, dann das andere. Interessant ist natürlich auch, inwiefern wird das von der Kunstwelt auch aufgenommen? Also in Venedig ist ja die ganze Kunst-Schickeria, sagen wir, trifft sich. Da geht es auch so Wer gehört dazu, wer nicht, Wer ist wer? Sehr stark. Who is who? Und das hier ist wie ein anderer Ort. Ein eher heruntergekommener Ort. Wenn sich dann alle dorthin bewegen, weil man sich sonst so von Luxushotel zu Luxushotel, von Apero zu Apero bewegt, neben den Kunstausstellungen, also hier auch diese Welt ein bisschen zu knacken und sagen: Schaut mal hier rüber.

Sandra Leis [:

Könnte es auch sein, dass die römisch-katholische Kirche sich so ein moderneres Image verpasst?

Madeleine Schuppli [:

Das denke ich auf jeden Fall. Also die römisch-katholische Kirche hat ja eine Herausforderung mit ihrem Image, gewisse Formen, gesellschaftliche Haltungen, die mit einer zeitgenössischen Gesellschaft natürlich in Konflikt kommen. Weiß nicht, Haltung gegenüber Homosexualität zum Beispiel oder Abtreibung. Und dass sie hier – weil die Kirche hat ja eine ganz interessante Geschichte mit der Kunst – einen Schritt eigentlich auf die Gegenwartskunst auch zumacht und ja, auch offen ist und dann so jemanden wie Cattelan sogar einlädt. Ein starkes Zeichen.

Sandra Leis [:

Also du interpretierst das auch so, weil jahrhundertelang war ja Kirche und Kunst, die gehörten ja zusammen. Also die Kirche war der wichtigste Auftraggeber und es dauerte Jahrhunderte lang, ging das so weiter bis zur Moderne, da kam es zum Bruch. Man sieht es auch in den Vatikanischen Museen, die haben da eine riesige Sammlung, auch nichtchristlicher Kunst. Und dann so 1970 hört es einfach auf. Kann man auch sagen, es gibt jetzt wieder eine Art Annäherung zwischen Kunst und Kirche? Oder ist das übertrieben?

Madeleine Schuppli [:

Als große Bewegung nehme ich es nicht wahr, aber es gibt immer Beispiele, die teils auch sehr interessant sind. Vielleicht kennen viele der Zuhörerinnen und Zuhörer den Kölner Dom und die Arbeit von Gerhard Richter, die er dort gemacht hat.

Sandra Leis [:

Die Glasfenster.

Madeleine Schuppli [:

Genau. Das ist eine ganze Reihe von Glasfenstern, und die haben eine große Präsenz in diesem Dom-Innenraum. Für die Glasfenster, die während des Krieges zerstört wurden, hat er eine abstrakte Farbkomposition gewählt. Köln hat einen Künstler eingeladen, bei dem es auch klar ist, dass er jetzt nicht eine christliche Narration aufnehmen wird, weil er eigentlich größtenteils abstrakt arbeitet, sondern ein abstraktes, auch mit zufälligen Mustern dann gestaltete Glasfenster anbringt. Das ist schon ein, denke ich, ein Zeichen der Offenheit, auch des Mutes. Es gab auch sehr viel Kritik an dem, dass hier jetzt einfach eine künstlerische Arbeit installiert wurde, die eben auch eine gewisse Zufälligkeit hat. Dort, wo normalerweise sehr klare christliche Ikonografie ihren Platz hat.

Sandra Leis [:

Inwiefern kann denn zeitgenössische Kunst auch ein Zugang sein zum Glauben? Ist das heute noch möglich?

Madeleine Schuppli [:

Ja, das denke ich sehr stark. Ja. Ich denke, Kunst ist ja ein Medium, das uns öffnet, das uns Fragen stellt, das uns auch reflektieren lässt über uns selber, über die Welt. Und das sind ja Dinge, die auch der Glaube macht, wie ich es sehe, wie ich es verstehe, dass eben auch der Glaube Fragen stellt und Antworten sucht. Und da gibt es eine gewisse Parallele zur Kunst.

Sandra Leis [:

Madeleine Schuppli, vielen herzlichen Dank für dieses Gespräch, für diese Kopfreise nach Venedig und in die zeitgenössische Kunst ganz allgemein.

Madeleine Schuppli [:

Ganz herzlichen Dank auch von meiner Seite.

Sandra Leis [:

Das war die 26. Folge des Podcasts «Laut + Leis». Zu Gast war die Kunsthistorikerin, Kuratorin und Autorin Madeleine Schuppli. Sie hat Einblick gegeben in das künstlerische Schaffen des Künstlers Maurizio Cattelan und hat erklärt, weshalb der Vatikan gerade ihn an die Biennale in Venedig eingeladen hat.

Die Biennale läuft noch bis zum 24. November. Wer das Frauengefängnis auf der Insel Giudecca von innen sehen möchte, muss sich frühzeitig für eine Führung anmelden.

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Der nächste Gast bei «Laut + Leis» wird Stefan Loppacher sein. Er leitet die Geschäftsstelle «Fachgremium sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz. Im letzten September sind die Ergebnisse der Pilotstudie veröffentlicht worden, und die Schweizer Bischofskonferenz hat Massnahmen angekündigt. Wie sieht es neun Monate später mit der konkreten Umsetzung aus? Alles zum aktuellen Stand hört ihr in der nächsten Folge.

Bis in zwei Wochen – und bleibt laut und manchmal auch leise.

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