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Und das, obwohl eine Bushaltestelle
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so viel eigentlich gar nicht können müsste.
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Es war im Jahr 2002,
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als sich ein kanadischer Fotograf
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auf eine Radtour begab.
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Von London bis nach St. Petersburg
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zog es den jungen Kreativen.
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Für diese Reise stellte er sich selbst die Aufgabe,
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stündlich ein überzeugendes Bild zu schießen.
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Den Auslöser der Kamera nicht dann drücken,
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wenn im eigenen Blickfeld etwas Besonderes erscheint,
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sondern die Welt stündlich so ablichten, wie sie sich eben zeigt.
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So was wie BeReal vor mehr als zwanzig Jahren.
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Durch diese Challenge wurde Christopher Herwig,
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wie der kanadische Fotograf heißt,
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auf verlassenen Strassenabschnitten aufmerksam
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auf die einzigartige Architektur
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der Bushaltestellen aus Sowjetzeiten.
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Der Startpunkt einer Obsession.
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Herwig hat nicht mehr damit aufgehört,
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Haltestellen zu fotografieren.
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In den zurückliegenden zwanzig Jahren
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legte er mehr als 18000 Meilen durch 14 Länder
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der ehemaligen Sowjetunion zurück.
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Mit dem Auto, Bussen, Taxis
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oder mit dem Fahrrad.
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Er lokalisierte auffällige,
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kreativ gestaltete Busstopps,
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hielt sie mit der Kamera fest, spürte deren Schöpfer
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oder Schöpferinnen auf und suchte bei ihnen Antworten.
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Es entstanden zwei Bildbände
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und ein Dokumentarfilm,
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die die Expedition des Fotografen
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in Regionen von der Ukraine bis Usbekistan,
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Armenien und Fernostsibirien zeigen.
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Warum faszinierte ihn so Profanes?
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Während der Sowjetzeit standen
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alle gesellschaftlichen Bereiche
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unter strenger zentralisierter Aufsicht.
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Auch von Architekten, Musikerinnen, Filmemachern
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und Malerinnen wurde erwartet,
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dass sie mit ihrem Schaffen nichts anderes tun,
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als die Erzählung vom Kommunismus
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als Paradies auf Erden voranzutreiben.
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Volle Kontrolle über den Kulturbetrieb.
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Dabei blieben die Bushaltestellen unbemerkt.
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Zu unscheinbar, zu bedeutungslos und alltäglich,
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als dass sich der Staat dafür interessieren würde.
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Aus diesem Grund wurden sie zum Spielplatz
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für Künstlerinnen und Künstlern.
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Es existieren zwischen Kiew bis Wladiwostok
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noch heute Hunderte von architektonisch
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außergewöhnlichen Bushaltestellen:
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von strengen Formen
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bis hin zu üppigen Designs voller Farben,
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teils skurril, exzentrisch, ästhetisch mutig.
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Und das, obwohl eine Bushaltestelle
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so viel eigentlich gar nicht können müsste.
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Ein stiller Protest
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gegen die damaligen staatlichen Vorgaben.
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Erbaut von Einzelpersonen,
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die beschlossen, eigene künstlerische Ideen umzusetzen.
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Eine Sache, übrigens,
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die uns heute so selbstverständlich erscheint,
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dass wir vergessen, sie als Privileg zu betrachten.
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Mit seiner Faszination für all das,
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steht Herwig eher alleine da.
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Heute sind, belastet durch den historischen Kontext
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ihrer Entstehung, viele der Haltestellen
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vom Abriss bedroht.
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Oder sie werden als seltsame,
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eher peinliche Relikte abgetan.
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Warum erzähle ich diese Geschichte?
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Ganz einfach,
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weil sie mich berührte, als ich sie las.
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Und weil ich aus der Geschichte
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und aus Geschichten
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immer auch etwas lernen
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und andere dazu anstiften will.
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Was mich betrifft:
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Ich bin einmal mehr beeindruckt
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von einigen der zahlreichen Charakterzügen der Kunst.
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So subtil,
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witzig, selbstständig, kraftvoll.
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Dann der Entscheid Herwigs, sich über einen langen Zeitraum
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einer solch nischigen Angelegenheit zu verschreiben.
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Ich will okay sein damit, dass fokussiertes Arbeiten
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viele Neins beinhaltet.
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Es entsteht Schönes,
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wenn ich es schaffe,
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eine einzige Sache im Blick zu haben.
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Die Kunstschaffenden
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aus Sowjetzeiten höre ich zu mir sagen:
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Geschlossene Türen schärfen den Blick für Schlupflöcher.
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Es gibt immer einen «Aktionsspielraum».
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Es gibt immer einen «Aktionsspielraum».
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Suche die Orte, wo Dinge möglich sind!