 
                Erschöpfung und Burnout sind häufige Diagnosen. Was steckt dahinter, und weshalb sind insbesondere auch Christinnen und Christen davon betroffen? Und: Was hilft wieder raus? Antworten gibt der Psychotherapeut Jörg Berger in seinem Buch «Die Anti-Erschöpfungsstrategie».
Die Themen dieser Folge:
Da ist der Glaube tatsächlich ein Risikofaktor, weil der erzieht einen und trainiert einen ja zur Nächstenliebe, sogar zur Opferbereitschaft manchmal. Und die Gefahr ist groß, dass man dann Liebe mit Liebsein verwechselt und nicht die andere Seite des Evangeliums dann lebt, wo man auch bei Ungerechtigkeit klare Grenzen setzen kann. Und da findet man zum Glück das gefällt mir als Therapeut auch in der Bibel gute Beispiele, wie einzelne dort Konflikte auch sehr offen sehr klar austragen, wie Jesus zum Beispiel auch zornig werden kann oder Paulus oder Petrus und die Bibel eigentlich eine gute Schule für auch kraftvolle Konfliktfähigkeit ist.
Sandra Leis [:Das ist der Podcast «Laut + Leis». In dieser Folge geht es um Erschöpfung und Burn out und um die Frage, weshalb insbesondere auch Christinnen und Christen davon betroffen sind. Und was hilft wieder raus? Ich bin Sandra Leis und diskutiere diese Fragen mit dem Psychotherapeuten Jörg Berger. Sein neues Buch heißt «Die Anti-Erschöpfungsstrategie» und ist im Herder-Verlag erschienen. Die Deutsche Bahn, die hat in den letzten drei Tagen gestreikt. Doch heute ist sie wieder gefahren und ich bin froh und freue mich, dass ich hier sein kann, hier bei Ihnen in Heidelberg. Und ich danke Ihnen sehr, dass Sie auch an einem Samstag Zeit haben für dieses Gespräch. Jörg Berger Was hat bei Ihnen kürzlich Stress ausgelöst?
Jörg Berger [:Ja, wir mussten im letzten Jahr überraschend umziehen. Das war natürlich eine große Herausforderung. Das war gerade in der Zeit, in der ich auch an dem Manuskript geschrieben habe. Und Menschen haben zu mir gesagt Ja, du darfst jetzt aber nicht erschöpft sein. Und dann habe ich mich gefragt Darf man als Fachmann auch erschöpft sein? Sicher. Aber man hat dann natürlich auch Ideen, wie man gegensteuern kann.
Sandra Leis [:Was war die wichtigste Idee?
Jörg Berger [:Die wichtigste Idee war es, so die Belastung ernst zu nehmen. Auch diese emotionale Belastung, die es so mit Umzug und diesen 1000 Kleinigkeiten, die damit verbunden sind. Und mir zu erlauben, mich in anderen Bereichen zu entlasten und insgesamt wieder zu einer Balance zu finden. Das hat viel von der potenziellen Erschöpfung abgefedert.
Sandra Leis [:Und Ihr Buch ist trotz Umzug herausgekommen. Es ist jetzt da und auf dem Cover ist ein Tiger abgebildet. Was können wir Menschen vom Tiger lernen?
Jörg Berger [:Der Tiger steht für ein Wesen, das nach der eigenen Natur lebt. Tiere können ja gar nicht anders, als den eigenen Instinkten und der eigenen Natur zu folgen. Er kann unheimlich gut jagen und große Strecken zurücklegen, kann auch sehr weit schwimmen, wenn es mal drauf ankommt. Aber wir haben auch ein Bild vom Tiger wie in der Sonne döst ganz gemütlich und es gibt sogar ein paar biologische Eigenarten, dass er die Beute nur eine ganz kurze Strecke verfolgt. Und wenn er dann die Beute nicht hat, dann gibt er einfach auf. Tiere sind auch entspannt auf ihrem Gebiet mal was nicht zu machen, wozu wir uns Menschen treiben würden. Und deswegen war das so ein ganz spannendes Bild, das sich auch hier und da in dem Buch aufgegriffen habe.
Sandra Leis [:Es kommt ja immer wieder mal vor. Genau, es gibt den sogenannten positiven Stress. Das ist ein Stress, der uns beflügelt, der uns weiterbringt. Und es gibt eben auch den negativen Stress. Wie macht sich dieser negative Stress beim Menschen bemerkbar?
Jörg Berger [:Ja, diese Unterscheidung, die trifft auch schon den Kern von sich erschöpfen und nicht erschöpfen. Der positive Stress, das sind Herausforderungen, die in Einklang mit meiner Natur sind, also mit meinen Neigungen, mit dem, wofür ich mich begeistern kann, mit meinen Gaben. Und da kann ich auch mal sehr lange arbeiten, sehr hart arbeiten und ein bisschen leichtsinnig werden und mir über meine Grenzen und Kräfte gehen. Aber das funktioniert, weil das sehr viel Energie wieder zurückfließt. Der negative Stress ist ein Stress, der eben das Gegenteil ist. Wo ich quasi gegen meine Begabung, gegen meine Neigung arbeiten muss und einerseits was aus mir herausquetschen muss, was gar nicht in mir angelegt ist und auf der anderen Seite das, was mich ausmacht, gar nicht einbringen kann. Das hält man vielleicht eine Weile durch, weil wir Menschen ja irgendwie alles ein Stück weit aushalten können. Aber irgendwann gehen einem dabei die Kräfte aus bei dieser Art von negativem Stress. Und das kann dann im Erschöpfungszustand führen.
Sandra Leis [:Wann genau spricht man denn von Erschöpfung?
Jörg Berger [:Ein gutes Kriterium, wo ich dann auch Menschen meiner Praxis immer mal frage, ist: Können Sie sich denn wieder erholen?
Sandra Leis [:An diesem Wochenende.
Jörg Berger [:Genau an einem Wochenende? Oder wie war denn der letzte Urlaub? Wie ging es Ihnen denn am Ende des Urlaubs? Und das beantworten Menschen unterschiedlich, die sagen Ja, es war schon sehr stressig, aber ich war glücklich im Urlaub. Und danach war ich dann wieder entspannt und erholt. Erschöpfte beantworten das anders. Die sagen so am Sonntagabend oder am Ende des Urlaubs Jetzt wäre ich eigentlich erst bereit, mich zu entspannen. Jetzt bin ich so ein bisschen runtergekommen. Erholt bin ich noch nicht. Und jetzt bräuchte ich eigentlich noch ein Wochenende oder noch zwei Wochen Urlaub. Und dann hätte ich die Chance zu entspannen, denn ich regeneriere mich nicht mehr gut. Und das ist ein sicheres Zeichen, dass da schon eine Erschöpfung angekommen ist und die Entleerung der Kraft einfach eine Tiefe erreicht hat, wo man dann sehr, sehr lange Regenerationszeiten bräuchte.
Sandra Leis [:Sie arbeiten seit bald 25 Jahren als Psychotherapeut und haben viel Erfahrung sammeln können in dieser Zeit. Können Menschen ich spreche jetzt von Menschen hier in Westeuropa. Können wir weniger gut mit belastenden Situationen umgehen als früher?
Jörg Berger [:Ja, in vielerlei Hinsicht sind einfach die Anforderungen gestiegen. Also die Arbeitsdichte hat sehr zugenommen. Heute müssen viele sehr, sehr verdichtet arbeiten, und das strapaziert natürlich. Ein anderer Faktor ist, dass es fast so einen Freizeitstress gibt, denn man kann irgendwie so viel machen. Und oft sind auch die Maßstäbe gestiegen, wie man wohnt, was man alles erlebt. Und ein dritter Faktor ist noch, dass die meisten ja auch ein digitales Leben haben inzwischen, was ja natürlich auch tolle Chancen und Möglichkeiten bietet. Aber das digitale Leben muss ja auch noch bewältigt werden und das in Summe genommen, macht die Gefahr viel höher, sich zu erschöpfen, was man heute dann auch in einer steigenden Zahl psychischen Erkrankungen oder Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen sieht.
Sandra Leis [:Es gibt auch die These, dass wir Menschen hier in Westeuropa verzärtelt sind. Ist da was dran? Stimmt das?
Jörg Berger [:Ja, das finde ich eine sehr spannende Frage, zu der ich jetzt noch keine Fachliteratur kenne. Ich habe so eine persönliche Hypothese.
Sandra Leis [:Bin ich gespannt.
Jörg Berger [:Dass jetzt viele junge Menschen einfach mit mehr Einfühlung durch ihre Eltern, auch mehr Fürsorge und auf einem besseren Verhältnis zu ihren Eltern aufwachsen. Meine Elterngeneration oder meine Großelterngeneration, wo ja oft noch Schläge an der Tagesordnung waren, nicht viel emotionale Empathie da war und da eigentlich das Drum ging, erst mal so ein bisschen das wirtschaftliche Leben aufzubauen. Und das hat einen zwar hier und da ein bisschen geschädigt, aber doch auch abgehärtet. Und man konnte dann manche Lebenslasten vielleicht einfacher abfedern als jüngere Menschen. Aber man hat natürlich dann auch weniger Einfühlungsvermögen und Feinfühligkeit gehabt, was auch Nachteile hat. Und ich glaube, die jüngere Generation ist jetzt herausgefordert, dass sie einfach mehr spürt. Aber da geht auch eine Verwundbarkeit einher, weil eben diese Abhärtung nicht passiert ist. Und das ist auch ein bisschen Teil des Buches. Wie das geht, dass man sich vor Belastungen schützt, ohne dickhäutig und vielleicht auch desinteressiert an Menschen zu sein.
Sandra Leis [:Das Buch trägt den knackigen Titel «Die Anti-Erschöpfungsstrategie». Das klingt ein bisschen nach einfachem Rezept. Doch im Untertitel werden sieben Wege zu innerer Kraft angekündigt. Das heißt, die Sache ist komplizierter und beginnt damit, dass der erschöpfte Mensch erst einmal erkennen muss, dass er erschöpft ist. Warum fällt es vielen Menschen schwer zu merken, dass sie erschöpft sind?
Jörg Berger [:Viele Menschen sind wenig in Kontakt mit ihren Gefühlen und auch ihren Körper Signalen. Und wenn jetzt Menschen zum Beispiel in Therapie kommen, dann interessiert mich auch die Frage Ja, wann hat das denn angefangen? Und oft kann man jetzt im sorgfältigen Hinschauen im Nachhinein sehen Ja, das eigentlich war das schon vor fünf Jahren, da hat mir dieses Lebensereignisse zugesetzt. Oder an der Stelle ist es mir zu viel geworden. Man fragt sich natürlich ja, warum hat man nicht dann irgendwie gegengesteuert? Weil dann hätte man sich einige Folgen ersparen können oder wäre vielleicht nur in eine milde Erschöpfung gekommen statt in schweres Burnout. Aber die Betroffenen, die haben es einfach nicht gemerkt oder haben gesagt Na ja, jeder hat irgendwie Stress und man kann dann im Nachhinein sagen, die Betroffenen waren einfach mit sich, mit dem eigenen Körper nicht gut genug in Kontakt. Die haben die frühen Körpersignale nicht ernst genommen und dann hat sich der Körper irgendwann gewaltig zu Wort gemeldet, sodass man die Signale gar nicht mehr übersehen konnte. Aber vielleicht ist in diesen ersten Reaktionen eine Botschaft, die ich entschlüsseln könnte und die mir helfen könnte, auf bestimmte Herausforderungen zu antworten oder wieder in Einklang zu bringen, wie ich lebe und wie ich bin. Und das wäre eben die Anti Erschöpfungsstrategie, die hier schon ansetzt. Und ich freue mich natürlich über jeden, der das quasi schon in diesen Anfängen bemerkt und dann gegensteuert, weil man sich richtige Nervenzusammenbrüche und andere unangenehme Dinge dadurch ersparen kann.
Sandra Leis [:Belastende Beziehungen sind die Erschöpfungsursache Nummer eins. Schreiben Sie in Ihrem Buch. Wie können wir uns denn schützen vor Menschen, die uns nicht guttun? Also Freundschaften. Da können wir auch nicht selber entscheiden, ob wir wollen oder nicht. Aber Nachbarn, Arbeitskolleginnen und Kollegen, die können wir oder Familienmitglieder, die können wir uns ja nicht aussuchen, Die sind in der Regel einfach da. Was raten Sie hier? Wie können wir mit Menschen umgehen, die uns nicht guttun?
Jörg Berger [:Das erste ist ein Wissen und eine Aufklärung, dass es nach den Statistiken etwa 10 % Menschen gibt, die schwierige Persönlichkeiten es sind, die die Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung erfüllen und dann unter Umständen Menschen sind, deren Verhalten sehr anstrengend bis schädlich sein kann.
Sandra Leis [:Nennen Sie zwei, drei Beispiele von Persönlichkeitsstörungen.
Jörg Berger [:Ja, das wären zum Beispiel narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Menschen, die sehr ausnutzend und selbstbezogen, auch abwertend und herablassend sein könnten. Es gibt zwanghafte Persönlichkeiten, die sehr kontrollierend sein können, das Leben sehr eng machen und einen dann auch dadurch sehr einschränken können mit ihrer Pedanterie. Und so was kann sehr anstrengend sein. Und es ist dann wichtig zu wissen, unsere normalen Reflexe und unsere normale kommunikative und soziale Kompetenz geht dann in die völlig falsche Richtung. Normalerweise, also bei den reiferen 90 % der Menschheit, ist es gut, wenn man sich erst mal an die eigene Nase fasst und sagt Vielleicht war ich ja komisch. Ich habe doch sicher auch einen Beitrag, wenn meine Beziehung ein bisschen angespannt wird oder eine Situation schwierig ist. Und dann guckt man bei sich selbst und versucht es auch ein bisschen durch Großzügigkeit auszugleichen. Bei schwierigen bis schädlichen Menschen ist es genau die falsche Strategie, weil die versuchen, einem so eine verzerrte Wahrnehmung aufzudrängen, dass man dann in große Schwierigkeiten kommt. Und das sollte man eben nicht bei sich selber suchen, sondern sehr an der eigenen Wahrnehmung festhalten, sagen hey, ich kann hier meiner Wahrnehmung trauen. Das ist wirklich sehr unfair, wie der andere sich verhält. Und ich werde hier nicht großzügig sein, sondern darauf achten, dass eben faire Regeln eingehalten werden, dass ich Grenzen setze. Und wenn man das weiß, dann wird man ein bisschen wachsamer und kann es früher merken, wo dann auch schädliche Beziehungen sich abspielen und findet dann auch Strategien, wie man sich wehren und abgrenzen kann. Und einige davon habe ich da auch beschrieben im Buch.
Sandra Leis [:Also man muss merken, wer gehört zu diesen 10 % und hoffen, dass man selber nicht dazugehört.
Jörg Berger [:Ja, aber da ist die Erfahrung: Wer sich die Frage stellt «Gehöre ich vielleicht dazu? Bin ich auch ein belastender Mensch?» Das sind dann eigentlich nie diejenigen, die in diesen Bereich, weil die Schwierigen stellen sich nicht in Frage, sondern zeigen immer auf den anderen. Und da hat man schon Unterscheidungskriterien.
Sandra Leis [:Sie haben ja auch ein Buch geschrieben, das heißt «Stachlige Persönlichkeiten», so nennen Sie die, und die kommen auch im neuen Buch ein Stück weit wieder vor, wo sie dann diese Menschen auch typologisieren. Zu ihnen in die Praxis kommen oft auch gläubige Menschen und suchen Hilfe. Wann wird Ihrer Meinung nach der christliche Glaube zu einem Korsett, das Menschen einengt?
Jörg Berger [:Beim Thema schwierige Menschen, wo wir gerade waren, da ist der Glaube tatsächlich ein Risikofaktor, weil der erzieht einen und trainiert einen ja zur Nächstenliebe, sogar zur Opferbereitschaft manchmal. Und die Gefahr ist groß, dass man dann Liebe mit Liebsein verwechselt und nicht die andere Seite des Evangeliums dann lebt, wo man auch bei Ungerechtigkeit klare Grenzen setzen kann. Und da findet man zum Glück – das gefällt mir als Therapeut auch in der Bibel – gute Beispiele, wie Einzelne dort Konflikte auch sehr offen sehr klar austragen, wie Jesus zum Beispiel auch zornig werden kann. Oder Paulus oder Petrus.
Sandra Leis [:Im Tempel beispielsweise.
Jörg Berger [:Die Bibel ist eigentlich eine gute Schule auch für auch kraftvolle Konfliktfähigkeit. Das muss aber nicht unbedingt sein, dass man das in seiner kirchlichen Sozialisation so erfährt und dass man dann ein bisschen übertrieben großzügig, übertrieben sozial ist und dann immer noch lieb ist, während ein anderer einen sehr schlecht behandelt. Das ist halt ein besonderer Risikofaktor gläubiger Menschen, wo das genau diese Eigenschaften in anderen Kontexten ja total schön sind, dann und wirklich dann auch den besonderen Zauber und die Freude des Glaubens ausmachen. Und das kann ich natürlich schnell erkennen, wenn da eine christliche Prägung zur Gefährdung wird. Und da habe ich eigentlich immer schön Entwicklungswege, dass Menschen dann zwar die soziale Einstellung, die Nächstenliebe nicht aufgeben, aber zu einer wehrhaften Liebe finden, die auch Grenzen setzen kann. Und den anderen mal vor die Wahl stellt: Entweder gehst du einen guten Weg mit mir, oder wir scheitern an der Stelle. Aber die Tür bleibt immer offen bei mir. Wenn du dich doch für einen guten Weg entscheiden willst.
Sandra Leis [:Bei der Lektüre ist mir ein Beispiel geblieben. Sie schreiben von einer Frau, deren Eltern erwarten oder erwartet haben, dass die Tochter und auch die anderen Kinder die Eltern pflegen. Also wirklich sehr pflegebedürftig waren die beiden. Und dann hat die Tochter dann irgendwann mal das Gespräch gesucht und den Konflikt ausgetragen. Und das war am Schluss für alle gut. Das beschreiben Sie ja eben, diese Konfliktfähigkeit. Die ist ja gerade im christlichen Glauben nicht so verankert, wie wir da sozialisiert werden, sondern es heißt dann ier Harmonie, auch in den Kirchgemeinden. Und das ist ja manchmal eine große Herausforderung, wenn die Harmonie dann überhaupt nicht mehr stimmt.
Jörg Berger [:Ja, und ein fair ausgetragener Konflikt kann wie in dem Beispiel gute Lösungen dann möglich machen, die vielleicht auch mal unrealistische Wünsche und Vorstellungen begrenzen. Und letztlich ist es die beste Prävention für wirklich hässliche Konflikte und Eskalationen, wenn man mal guckt, wenn in einer Kirchengemeinde ein gewaltiger Konflikt ausbricht, eine große Krise und man mal guckt, wie hat das denn angefangen, dann findet man immer Punkte, wo Konflikte vermieden wurden im Vorfeld und wo Personen, vielleicht Machtmenschen eine lange Phase haben, wo sie einfach zu viel Einfluss gewinnen konnten und wo man sagt hier war eigentlich der Anfang vom Ende. Und das Problem ist eigentlich nicht das gewesen, dass es am Schluss so geknallt hat. Das war natürlich auch unangenehm, sondern dass am Anfang die notwendigen Konflikte nicht ausgetragen wurden. Und das ist natürlich eine interessante Perspektive, die man jetzt als glaubender Mensch, der ja eben Harmoniesucht, Liebe sucht, gute Beziehung sucht, Frieden sucht, die man nicht als erstes hat, aber die sehr hilfreich ist, wenn man die eben aus einer psychotherapeutischen Perspektive zur Verfügung stellen kann.
Sandra Leis [:Sie selber sind ein gläubiger Christ und eine Ihrer Empfehlungen im Buch lautet «Geben Sie Ihrem Leben eine spirituelle Grundlage». Warum ist diese Grundlage in Ihren Augen wichtig?
Jörg Berger [:Es gibt so ein paar Lebensthemen, zu denen finde ich in der Fachliteratur nichts, die aber psychotherapeutisch total relevant sind. Also zum Beispiel sind Sinnfragen relevant. Und manchmal begleite ich auch Menschen, die jetzt keinen irgendwie glauben oder besonderen Wertehintergrund haben. Und die können natürlich dann auch an ihrer Symptomatik arbeiten. Aber ich nehme dann oft war, da bleibt so eine Sinnleere und dieses Vakuum, das kann sehr schnell neue Probleme, neue Abhängigkeiten nach sich ziehen. Und oft habe ich das. Am Ende der Therapie ist ein bisschen Unbehagen und man sagt okay, wir haben erfolgreich gearbeitet, in gewisser Hinsicht. Aber jemand hat gar keine Wertegrundlage, wenig Sinn, wenig höhere Ziele und Werte. Und ich erlebt das als so ein Risikofaktor. Und umgekehrt erlebe ich bei gläubigen Menschen manche Sachen als sehr hilfreich. Zum Beispiel gibt es ja diesen christlichen Wert der Demut. Da wüsste ich gar nicht, wie ich das im Fachbegriff bezeichnen und beschreiben sollte. Und das ist ein sehr, sehr pfiffiges und differenziertes Konzept. Demut heißt ja nicht Ich habe einen schlechten Selbstwert immer mehr bieten. Genau. Wenn man mal wirklich demütige Menschen erleben darf, mit denen Strecke unterwegs ist, merkt man, die haben ein sehr gutes Selbstwertgefühl, dass sie wertvoll sind, anderen bereichern, dass sie was können, dass sie sich nicht alles bieten lassen. Und trotzdem nehmen die sich nicht so wichtig. Die nehmen Dinge nicht persönlich, reiben sich nicht an Kleinigkeiten auf, die vielleicht am Ego kratzen können auch kleinere Verluste mal gut wegstecken, weil sie sagen «Mensch, ich bin echt der Nabel der Welt». Und das hat ein unglaubliches Potenzial, wie ich mit Stress umgehe, wie ich mit Belastung umgehe, woran ich meinen Wert aufhänge. Und das hat sich, soweit ich das sehen kann, die wissenschaftliche Psychologie und Psychotherapie noch gar nicht erschlossen. Ist aber natürlich ein Kern christlicher Lebensgestaltung und das ist eine gewaltige Ressource. Und ich kann natürlich jetzt Patienten, die gar keinen Glaubensbezug haben, schlecht sagen Hier gehen Sie mal in die Kirche und erarbeiten sich da eine gute Grundlage. Aber weil viele zu mir kommen, die das schon haben, ist es eine wunderbare Ressource, die ich auch sehr gerne einsetze.
Sandra Leis [:Ein Satz in Ihrem Buch hat mich verblüfft. Denn schreiben Sie über sich selber: «Müsste ich mich zwischen meinem Fachwissen und meinem Glauben entscheiden, würde ich ohne Zögern den Glauben wählen.» Warum?
Jörg Berger [:Ja, das ist einfach der Vergleich. Ich habe ja als Fachmann selber von den Dingen, die ich lerne und es gehört auch zu meiner Ausbildung, dass ich Selbsterfahrung habe, dass ich also die Methoden, die ich lerne, auch in meiner eigenen Person, in meiner eigenen Biografie und an meinen Problemen ausprobiere. Und da habe ich natürlich einen gewissen Nutzen. Und dann gibt es natürlich die Veränderung, die meine Spiritualität, meine Gottesbeziehung, christliche Gemeinschaft machen. Und wenn ich das jetzt so auf zwei Waagschalen lege, dann sehe ich, so sehe ich von meiner fachlichen Entwicklung profitiert habe. Der Glaube hat viel mehr befreiende Effekte gemacht, und zwar solche, die psychologisch schwer erklärbar sind. Aber der Glaube sagt ja, da gibt es irgendwas Übernatürliches. Auch in der Gottesbeziehung spielen sich heilsame Dinge ab, die Jesus Beziehung richtet als das Leben und die Beziehung aus in einer Weise, die einfach wahr ist, dem Menschsein entspricht. Und da habe ich auch viele positive Erfahrungen gemacht, bin sehr bereichert worden und ja, das ist einfach ein bisschen stärker noch im Effekt als das andere.
Sandra Leis [:Zum Schluss möchte ich noch auf eine Strategie zu sprechen kommen. Da schreiben Sie: «Werden Sie zur Autorin, zum Autor Ihres Lebens». Das klingt einerseits natürlich prima, man hat es selber im Griff, sozusagen. Andererseits klingt dieses Autorinnensein in meinen Ohren auch ein bisschen nach «Jeder ist seines Glückes Schmied». Also selber schuld, wer nicht glücklich ist.
Jörg Berger [:Das ist in der Psychotherapie ein sensibler Punkt. Weil es ist halt beides. Oft sind wir uns ja der Dinge, die uns beeinflussen, nicht bewusst. Und da ist man natürlich so lange noch unschuldig, weil man kann nicht sein Glück schmieden, wenn man gar nicht weiß, warum ich solche Präferenzen habe und Entscheidungen treffe. Auch wenn natürlich ein großes Potenzial drin liegt. Und ich versuche immer so eine doppelte Botschaft zu sagen Hier, Sie können nichts dafür. Ihre Prägungen haben Sie auf diese Spur gesetzt. Und das hat zum Beispiel dazu geführt, dass Sie sich lange irgendwie Partner gesucht haben, die vielleicht genauso tyrannisch waren wie der Vater, weil sie das war halt das, was Sie kannten, was vertraut war. Ihnen ist das eigentlich aufgefallen, aber jetzt, wo Sie hier bei mir sind und wo Sie sich dessen bewusstwerden, können sie die Weichen anders stellen. Und deswegen liegt da auch ein großes Potenzial drin, auch wenn man natürlich trotzdem nicht alles in der Hand hat. Aber wir sind überraschend stark von Automatismen geprägt. Allerdings passieren auch sehr wichtige Entscheidungen, oft automatisiert, zum Beispiel welche Menschen uns anziehen, wie viel Nähe und Abstand wir zulassen gegenüber verschiedenen Menschen, wie wir unsere Aufgaben und auch bei großen Entscheidungen, welchen Beruf wir wählen. Und da ist natürlich die Frage Warum wähle ich das so und will ich das so und entspricht mir das so? Und wenn man da ein bisschen auf die Spur kommt und sagt Hier, das ist jetzt erst mal so meine automatische Einstellung und jetzt bin ich frei zu wählen. Vielleicht mag ich die einfach weiterführen, weil sie zu mir passt, auch heute noch. Vielleicht passt sie heute aber nicht mehr. Und wie wäre das denn, wenn ich jetzt mir mal ein bisschen anderen Typ Menschen such? Vielleicht nicht diese faszinierten, unterkühlten Menschen, mit denen ich so zu tun habe, sondern einfach mal herzliche Herzenswärme, Großzügige Menschen, die ich vielleicht so vorher ein bisschen langweilig fand oder gar nicht so auf die Idee gekommen bin, der Nähe zu suchen. Und das sind spannende Entdeckungen, die richtig lebensverändernde sein können. Und in dieser Weise kann man zur Autorin und zum Autor seines eigenen Lebens werden.
Sandra Leis [:Sie sind kein Freund von Selbstoptimierung und auch kein Freund vom positiven Denken. Warum nicht? Was stört Sie an Selbstoptimierung und dem Slogan «Denk einfach positiv, dann kommt es schon gut.»?
Jörg Berger [:Wenn man jetzt mal ein Ideal verfolgt und da mal ein bisschen ein paar Monate Feuereifer hat, das ist völlig in Ordnung. Das kann sehr optimiert sein. Aber wenn das jetzt so dauerhaft ist oder zu viele Lebensbereiche betrifft, ist es eigentlich eher ein schädliches Projekt. Das positive Denken als Weltanschauung ist ziemlich verbreitet und so bis in viele Publikationen und Serien auch. Und das hat ja diese Weltanschauung und sag hier, wenn du positiv denkst, dann ziehst du Positives an und im Grunde kommt dir vom Universum das entgegen, was in deinem Kopf ist. Und das hat natürlich eine Tragik, weil menschliches Leben einfach darin besteht, dass mal gute und mal nicht so gute Dinge passieren. Und da wird auch der positivste Denker mit konfrontiert und dann wird er natürlich irgendwie in Not kommen und sagen Hier, dann muss ich aber schuld sein. Ich habe irgendwie nicht positiv gedacht.
Sandra Leis [:Nicht positiv genug!
Jörg Berger [:Genau. Und das heißt, das ist eine Weltanschauung, die gar kein Konzept mehr hat für das, was an unvermeidlichen Leid und an unvermeidlichen Verlusten auch entsteht. Oder wo man auch mal scheitert. Und jeder, der was wagt, hat auch kleine Verluste oder scheitert mal und dafür erreicht er in anderen Gebieten was. Und das kann einem das positive Denken zumindest als Weltanschauung nehmen. Das ist natürlich eine positive Einstellung. Gut ist und das ist einfach auch vor Depressionen schützt, wenn man lieber ein bisschen zu Positives erwartet als zu Negatives. Das ist auch was. Aber das ist ja noch keine Weltanschauung, die einen gewissermaßen zwingt, die Dinge immer positiv zu sehen und gewissermaßen durch sein eigenes Denken das Positive anzuziehen, was einmal ein bisschen unrealistisch ist und mit der Lebenserfahrung auf Dauer nicht in Einklang zu bringen ist und gleichzeitig auch eine Form von Stress ist, weil man dann in eine Verantwortlichkeit kommt, die ja die viel Anspannung hervorrufen kann.
Sandra Leis [:Jörg Berger, herzlichen Dank für diese Ausführungen.
Jörg Berger [:Bitte schön!
Sandra Leis [:Das war die 17. Folge des Podcasts «Laut und Leis». Zu Gast war der Psychotherapeut Jörg Berger aus Heidelberg. Sein neues Buch ist im Herder-Verlag erschienen und heißt «Die Anti-Erschöpfungsstrategie. 7 Wege zu innerer Kraft». Wenn Ihr, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, uns Feedback geben mögt, bitte per Mail an podcast@kath.ch oder per WhatsApp auf die Nummer 078 251 67 83. In der nächsten Folge von «Laut und Leis» spreche ich mit Irene Gassmann, der Priorin des Klosters Fahr. Sie leitet das Benediktinerinnen-Kloster seit zwanzig Jahren. Zeit für eine Bilanz und den Blick in die Zukunft. Bis in zwei Wochen. Und bleibt laut und manchmal auch leise.